Von Dr. Jasper Meya, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv)
Das Jahr 2021 könnte zu einem wegweisenden Jahr des globalen Artenschutzes werden: Im Herbst sollen auf dem UN-Biodiversitätsgipfel in Kunming die globalen Naturschutzziele für die nächsten Jahrzehnte verabschiedet werden. Da lohnt sich der Blick zurück. Keines der Naturschutzziele, die sich die globale Staatengemeinschaft bis 2020 gesetzt hatte (s.g. Aichi-Ziele), wurde erreicht (Secretariat of the CBD 2020). Beispielsweise ist, entgegen des Ziels bis 2020 den Verlust von natürlichen Habitaten mindestens zu halbieren und möglichst zu stoppen (Aichi-Ziel 5), der Verlust und die Degradation von Habitaten hoch, insbesondere auch in den Biodiversitätshotspots der tropischen Regionen statt (Secretariat of the CBD 2020). Warum sind die bisherigen Naturschutzziele gescheitert?
Teil der Erklärung ist: Es werden nicht genug Finanzmittel für Naturschutzmaßnahmen bereitgestellt. In Deutschland und in der EU ist der Naturschutz seit vielen Jahren „eklatant unterfinanziert“ (SRU 2017). Im Sommer 2021, wenige Monate vor dem angepeilten Termin des UN-Biodiversitätsgipfels, warnt der federführende Diplomat für die Erstellung des Vertragsentwurfes, dass der Erfolg der neuen Naturschutzziele an der fehlenden Finanzierung der Maßnahmen scheitern könnte (Krumenacker 2021). Nicht ohne Grund sieht der erste Vertragsentwurf als eines von vier langfristigen Zielen vor, dass die Finanzierungslücke zwischen den notwendigen Ausgaben zur Erreichung der Naturschutzziele und den tatsächlich bereitgestellten Finanzmitteln geschlossen wird (UNEP/CBD 2021).
Naturschutz ist eine Investition in zukünftige Ökosystemleistungen
Die Grundlage für eine Bezugnahme auf ökonomische Ansätze in den Bereichen Naturschutz und Biodiversität bildete das Konzept der Ökosystemleistungen, das eine zentrale Schnittstelle zur ökonomischen Betrachtung von Natur und biologischer Vielfalt bietet. Es zielt darauf ab, sich der vielfältigen Leistungen der Natur für den Menschen bewusst zu werden und sie zu systematisieren. Das Erkennen und Aufzeigen der Bedeutung und des Wertes dieses Naturkapitals für Mensch und Gesellschaft sollen helfen, gesellschaftliche Entscheidungen zu korrigieren, die die Natur und ihre Ökosystemleistungen oft unzureichend berücksichtigen.
Die geringen Ausgaben im Naturschutzbereich führen nicht nur zur Zielverfehlung, sondern Sie reduzieren auch den zukünftigen Wohlstand. Aus makroökonomischer Perspektive hängt der Wohlstand vom gesellschaftlichen Kapitalstock ab, der sich wiederum in produziertes Kapital, Humankapital und Naturkapital unterteilen lässt. Von der Höhe dieser Kapitalbestände leitet sich der jährliche Strom von Gütern und Leistungen ab, den die Menschen konsumieren können. Ökonom*innen haben daher in der Vergangenheit wiederholt staatliche Ausgaben in Infrastruktur (produziertes Kapital) und Bildung (Humankapital) als Basis für den zukünftigen gesellschaftlichen Wohlstand angemahnt. Dasselbe muss nun auch für den Naturschutz vorgebracht werden: Naturschutz erhöht den Naturkapitalbestand und damit den Erwartungswert der zukünftigen Leistungen und Güter, die eine intakte Natur für den Menschen bereitstellt. Es ist daher wichtig, Naturschutz nicht als Kosten, sondern als Investition in den Naturkapitalbestand zu betrachten.
Natur als einen Kapitalbestand zu sehen, war über Jahrhunderte ein weitverbreitetes Denken. In der Landwirtschaft war die Zielvorstellung üblich, der nächsten Generation eine höhere Bodenqualität weiter zu geben, als man selbst vorgefunden hatte. Für die Denker der ökonomischen Klassik — wie Adam Smith, David Ricardo, und John-Stuart Mill – war Land und Boden noch der wichtigste Produktionsfaktor, vor Arbeit und produziertem Kapital (Döring 2009). Erst als mit dem technischen Fortschritt, insbesondere der Erfindung des künstlichen Düngers, Anfang des 19ten Jahrhunderts die Bodenfruchtbarkeit ihren begrenzenden Charakter für die landwirtschaftliche Produktion verlor, verschwand Land als separater Kapitalbestand aus dem ökonomischen Denken (Döring 2009). In seiner ideengeschichtlichen Nachzeichnung des Naturkapitalbegriffes findet Ralf Döring, dass im neoklassischen Denken in der Phase von 1871 bis 1974 das Naturkapital aus den ökonomischen Produktionsfunktionen und Wachstumsmodellen verschwunden war. Erst in den 1980er Jahren begann mit dem neuen gesellschaftlichen Bewusstsein über die Krise im Mensch-Naturverhältnis auch die Renaissance des Naturkapitalbegriffes (Döring 2009).
Fehlallokation globaler Kapitalien
Zu Beginn des Anthropozän, dem Erdzeitalter des Menschen, ist die relative Knappheit der Naturkapitalbestände dagegen allgegenwärtig. Nach Jahrzehnten des globalen Wirtschaftswachstums hat sich das Verhältnis von produziertem Kapital zu Naturkapital verkehrt. Elhacham et al. (2020) schätzen das Gewicht der vom Menschen produzierten Dinge (wie Gebäude und Infrastruktur) im Vergleich zum Trockengewicht der lebenden Biomasse des Planeten ab. Ergebnis: Die Masse des Menschgemachten verdoppelt sich alle 20 Jahre und überschreitet etwa im Jahr 2020 das Gewicht der Biomasse. Diese zunehmende relative Knappheit von Naturkapital, spiegelt sich auch in den Leistungen, die der Mensch von einer intakten Natur bezieht. So attestiert der Weltbiodiversitätsrat (IPBES 2019), dass seit 1970 die ökologischen Leistungen der Natur in 14 von 18 untersuchten Kategorien abgenommen haben. Die vier Kategorien in denen der Mensch heute mehr Leistungen bezieht als noch 1970 sind gerade solche ,die direkt an eine materielle Ausbeutung der Natur gekoppelt sind (Landwirtschaft, Fischfang, Holzschlag, Bioenergie), und deren Nachfrage häufig die Regeneration der Ökosysteme übersteigt.
Aus volkswirtschaftlicher Sicht sind die globalen Naturkapitalbestände dabei bereits so niedrig, dass Investitionen in das Naturkapital den globalen Wohlstand mehr steigern würden, als in produziertes Kapital. Zu diesem Schluss kommt der für das britische Finanzministerium erstellte Dasgupta-Review (2021). Demnach geht das Herabwirtschaften des globalen Naturkapitals erheblich zu Lasten des globalen Wohlstandes. Um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, vergleicht der Bericht die Rendite des globalen Naturkapitals – gemessen als jährliches, planetares Nettoprimärprodukt im Verhältnis zum globalen Biomassenbestand – mit der des globalen produzierten Kapitals – gemessen als durchschnittliche globale Rendite auf Aktien und Immobilien. Die jährliche Rendite des Naturkapitals betrage demnach mindestens 19 % und sei damit erheblich höher als die des produzierten Kapitals von 5%, sodass volkswirtschaftlich zu viel in produziertes Kapital und zu wenig in Naturkapital investiert wird (Dasgupta-Review 2021, S. 59 – 60). Aus der Perspektive eines globalen Portfoliomanagements läge demnach eine Fehlallokation vor.
Von den Preissignalen einer Cowboy-Ökonomie zu denen einer Schatzhüterin
Wie konnte es so weit gekommen? Der Dasgupta-Review (2021) nennt als Hauptursache, dass sich der gesellschaftliche Wert von Naturkapital, nicht in den Markpreisen wiederspiegelt. Zum Teil senden naturschädigende Subvention stattdessen sogar negative Preissignale (z.B. BfN 2019). Man könnte sagen, die Preissignale der „Cowboy-Ökonomie“ – um einen Begriff von Boulding (1966) zu verwenden – treiben uns immer tiefer ins Anthropozän. Solange die Natur schier endlos wirkte und die Zivilisation vergleichsweise klein, war es sinnvoll jeden neuen Straßenkilometer der ins Dickicht geschlagen wurde oder jeden Quadratmeter Ackerland, der dem nassen Moor abtrotzt wurde, als gesellschaftlichen Fortschritt zu werten. Noch Anfang des 19ten Jahrhundert schien ein unendlich großer Naturkapitalbestand relativ wenig produziertem Kapital gegenüber zu stehen. Anfang des 21ten Jahrhunderts gibt es dagegen kaum einen Winkel der Welt der nicht vom Menschen überformt ist. Dieses veränderte Verhältnis der Bestände von Naturkapital und produziertem Kapital, erfordert Knappheitssignale, die über die des Marktes hinausgehen. Man könnte sagen: Die Preissignale der Cowboy-Ökonomie müssen von denen einer Schatzhüterin abgelöst werden.
Je knapper das Naturkapital wird, je größer ist der Fehler, der bei einem implizierten Naturkapitalwert von Null gemacht wird. Denn der relative Wert ökologischer Leistungen steigt, je knapper diese werden. Diese Werte sollten angemessen durch Regulierung verankert werden, damit die dezentralen Marktkräfte nicht zu einem weiteren, volkswirtschaftlich nachteiligen Aufzehren der Naturkapitalbestände führen. Um öffentliche Fehlinvestitionen zu vermeiden, müssen in allen Bereichen staatlichen Handelns der Wert von Natur systematisch in Planungsprozessen und Projekten erfasst werden. Die volkswirtschaftlichen Berichtssystemen sind systematisch, um Naturkapital zu erweitern, damit die Kapitalverluste abgebildet werden und Naturschutz als das erscheint, was es ist: Eine Steigerung des gesellschaftlichen Vermögens.
Angesichts der ökologischen Krise ist die gesellschaftliche Rendite von Ausgaben für den Naturschutz momentan sehr hoch. Die Vertragsstaatenkonferenz COP-15 in Kunming bietet hier ein besonderes Möglichkeitsfenster für globale Investitionen in die Naturkapitalbestände. Damit dieses Mal die globalen Biodiversitätsziele auch zur Trendwende im Artensterben führen, ist es wichtig, dass Europa und Deutschland bei der Vertragsstaatenkonferenz COP-15, die globalen Biodiversitätsziele mit substantiellen Aufwendungen für den Naturschutz unterlegen. Investitionen in das Naturkapital sind dabei sowohl die Opportunitätskosten des Naturschutzes, wie bei dem 30% Flächenziel der EU-Biodiversitätsstrategie (EU Kommission 2020), als auch öffentliche Ausgaben zur Restauration oder Wiederherstellung degradierter Ökosysteme, wie Wiedervernässung von Mooren, Deichrückverlegung oder Aufforstungen. Denn die Naturschutzausgaben von heute, sichern neben der Artenvielfalt auch die ökologischen Leistungen und damit den Wohlstand von morgen.